1. Einleitung

1.1 Veranlassung, Hintergrund, Zielsetzung

Mit der Wiedervereinigung Deutschlands und der zunehmenden Öffnung des mittel- und osteuropäischen Raums gewinnt der Oderraum im geographischen Mittelpunkt Europas (Karte A1) wieder verstärkte politische Bedeutung. Auch für die Wirtschaft, den Verkehr und nicht zuletzt für den Naturschutz stellt das Odertal in Nord-Süd- wie auch Ost-West-Richtung einen wichtigen Korridor dar. Der Naturschutz hat sich bisher vor allem in den südlichsten und nördlichsten Bereichen auf die Sicherung großflächiger und hochwertiger Schutzgebiete konzentriert.

Parallel dazu wurden auch Pläne zur Wiederbelebung der Oder für Schifffahrtszwecke entwickelt. Im September 1995 haben die polnischen Behörden "Das Programm zur Entwicklung der Wasserstraße der Oder bis zum Jahre 2005" (Program ODRA 2005, 1996) vorgelegt, das am 2. Januar 1996 vom Ökonomischen Komitee des Ministerrates (KERM) in seinen Grundsätzen bestätigt wurde. In diesem Programm sind der Bau von zumindest 2 weiteren Staustufen, der Ausbau vorhandener Wehr- und Schleusenanlagen und noch nicht näher festgelegte Flussbaumaßnahmen (einschließlich Kurvenbegradigungen und Verlängerung von Buhnen) auf der verbleibenden freifließenden Strecke vorgesehen. Die aus naturschutzfachlicher Sicht eher positiven Entwicklungen im Odertal über die letzten Jahrzehnte, auch als Folge der stark reduzierten Unterhaltungsmaßnahmen im Flussbau, sind damit grundlegend bedroht.

Der WWF beschloss daraufhin im Herbst 1996 sein Oder-Projekt auszuweiten, mit dem Ziel "schädliche wasserbauliche Eingriffe im Flussgebiet der mittleren und unteren Oder zu verhindern". Die Vorarbeiten hatten im Mai 1997 begonnen und wurden geographisch auf die gesamte Oder in der Tschechischen Republik, Polen und BRD ausgedehnt. Die verheerende Flut 1997 hat die Schwerpunkte des Projekts jedoch deutlich um Aspekte des Hochwasserschutzes erweitert. Fot. 1: G. Bobrowicz
Odra - sp³yw kry w okolicy Domaszkowa, luty 1996

Auch das "Programm Oder 2005" wurde einer Überarbeitung unterzogen und hieß nun "Programm Oder 2006" (Programm ODER 2006, 1999). Das Programm muß einen Komplex integrierter (rechtlicher, organisatorischer und technischer) Aktivitäten zur Bewirtschaftung des gesamten Odereinzugsgebietes unter besonderer Berücksichtigung des Hochwasserschutzes darstellen (Präambel im Programm Oder 2006, deutsche Fassung 22. März 1999). Neben dem Hochwasserschutz lagen aber nach wie vor eindeutige Schwerpunkte in der Verbesserung der Binnenschifffahrt, dem Speicherbau und der Wasserkraftnutzung.

Auf Grund der Erkenntnis:

wurde die Zielrichtung eines Oderprojektes des WWF-Auen-Instituts folgendermaßen festgelegt:

Unter dem gegebenen Zeitdruck des Entscheidungsverfahrens mußten dabei Kompromisse in der Genauigkeit und der Vollständigkeit gefunden werden.

In den Jahren 1998 und 1999 erfuhr das Programm Oder 2006 weitere Ergänzungen. Besonders hervorzuheben ist die Integration des "Program dla Odry (Programm für die Oder)" des polnischen Umweltministeriums (Beschluss des Komitees für regionale Politik und nachhaltige Entwicklung im Juni 1999). Dieser Oder-Auen-Atlas war ein Bestandteil des ehemaligen "Program dla Odry" des Umweltministeriums.

Das mehrfach überarbeitete bzw. ergänzte "Programm für die Oder 2006" wurde am 30. Mai 2000 vom Ministerrat angenommen und erhielt damit den Status eines Regierungsprogramms (Program dla Odry - 2006, 2000). Aufgrund des mittlerweile auf gut 10 Milliarden Zloty angewachsenen Finanzvolumens ist für die Realisierung ein Finanzierungsgesetz des Parlaments erforderlich geworden. In der ersten Lesung im polnischen Parlament im Juli 2000 wurde dieser Antrag jedoch erneut an Unterausschüsse zurück verwiesen mit der Bitte um nähere Überprüfung. Bis zur Drucklegung des Atlasses ist noch keine abschließende Entscheidung getroffen worden. Für den Staatshaushalt des Jahres 2001 wird aber vorgeschlagen, Finanzmittel für den Bau der Staustufe in Malczyce einzustellen.

Das ganze Verfahren ist von zahlreichen NGOs ständig mit Protesten und Eingaben begleitet worden. Diese haben darauf hingewiesen, daß Polen mit der Ratifizierung der Konvention über "Umweltverträglichkeitsuntersuchungen in einem grenzüberschreitenden Kontext" (1991), in Kraft getreten am 12. Juni 1997, die Verpflichtung übernommen hat, ein derartiges, grenzüberschreitende Belange betreffendes Projekt einer entsprechenden Prüfung zu unterziehen. Über eine entsprechende Untersuchung ist der Öffentlichkeit bis heute nichts bekannt (es dürfte sich angesichts der noch nicht ausreichend festgelegten Baumaßnahmen auch als noch nicht machbar erweisen).

Zur Vervollständigung dieser groben Hintergrundanalyse müssen noch zwei Aspekte ergänzt werden:

Im Herbst 1998 wurde eine bilaterale brandenburgisch-polnische Arbeitsgruppe "Oder 2006" (Arbeitsgruppe Oder 2006, 2000) etabliert und mit der Bearbeitung eines 10-Punkte-Programms über die hochwasserschutzbezogenen Anforderungen an das polnische Programm "Oder 2006" beauftragt. Neben der Klärung zur gegenseitigen Erhebung und Nutzung von Daten und zum Informationsaustausch im Hochwasserfall beinhaltet dieses Programm vor allem eine Strategie für die Verbesserung des Hochwasserschutzes und Aussagen zur Beschränkung des Ausbauumfanges der Oder für die Schifffahrt.

Die Beschränkung des Ausbauumfangs auf die Wasserstraßenklasse III wird mit umwelt- oder naturschutzrelevanten Gesichtspunkten nur dahingehend verknüpft, dass negative Auswirkungen auf das Ökosystem minimiert und ausgeglichen werden sollen. Es gibt keinen Hinweis auf eine Umweltrisikoeinschätzung und keinen Hinweis auf eine Wirtschaftlichkeitsprüfung. Mapa 1
Po³o¿enie Odry w Europie ¦rodkowej

Die zweite Ergänzung betrifft die Planungen zum Bau eines Donau-March-Oder-Kanals, die seit 1999 wieder verstärkt von Österreich aus, aber auch in der Tschechischen Republik und Polen in den entsprechenden politischen und wirtschaftlichen Gremien diskutiert werden. Die Schifffahrtsinteressen werden direkt an das Oderprogramm heran getragen oder damit dessen Notwendigkeit betont, unterstützt von den im TINA-Abschlussbericht 1999 (TINA Secretariat, 1999) zusammengefassten groben (Wunsch-) Vorstellungen über das zukünftige transeuropäische Netzwerk (TEN). Eine genauere wirtschaftliche Unterlegung dieser Forderungen fehlt ebenso wie auch nur in Ansätzen erkennbare Gedanken um eine Umweltrisikoeinschätzung. Zum Vergleich wird der Main-Donau-Kanal benutzt, der heute 8 Jahre nach der um mehr als 10 Jahre verzögerten Eröffnung immer noch weit unter den prognostizierten Transportmengen liegt (ca. 7 Mill. t auf dem M-D-Kanal im Jahr 1998 von prognostizierten 10 bis 15 Millionen t); für den Donau-March-Oder-Kanal werden im UN-ECE-Report 1981 (s. Zinke, 1999) sogar 25 bis 40 Mill. t prognostiziert.

Zumindest aus Sicht des Naturschutzes lassen die bisher existierenden Entscheidungsgrundlagen große Defizite erkennen. Der beschriebene Ablauf erweckt wieder einmal den Eindruck, dass von Lobbyisten und Vorhabensträgern gerne der Grundsatz beiseite gedrängt wird, dass die Realisierung derartig großräumiger Entwicklungsprogramme immer einen schwierigen Prozess der Konsensfindung zwischen den unterschiedlichen Interessenslagen und Betroffenen darstellt. Die Visualisierung der Ausgangsgrundlage und der potenziellen oder realen Auswirkungen derartiger Vorhaben durch eine methodisch einheitliche, öffentlich zugängliche und nachvollziehbare Datengrundlage, auch für naturschutzfachliche Belange, ist für einen konstruktiven Dialog unverzichtbar. Dieser Atlas soll dazu als Anregung dienen und Hilfestellung geben.

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