Vorwort

Mit dem Fall des eisernen Vorhangs sah sich der Naturschutz in der Pflicht, den wertvollen Naturlandschaften in Mittel-, Ost- und Südosteuropa das Schicksal zu ersparen, das ihnen in den meisten westeuropäischen Ländern widerfahren ist. In diesem Sinne hat sich der WWF ab Anfang der 90er Jahre für die Ausweisung eines Nationalparks an der unteren Oder und später für eine naturverträgliche Landnutzung im Rahmen des Projektes "Grünes Band Oder-Neiße" (WWF, 2000) engagiert. Parallel dazu liefen aber bereits entgegengerichtete Bestrebungen. So wurde 1995 von polnischer Seite unter dem Namen "Odra 2005" ein Programm zum technischen Ausbau der Oder entwickelt. Dem seit Jahrzehnten nur notdürftig unterhaltenen Fluss drohte damit die Gefahr weiterer Staustufen und Flussbegradigungen. Der WWF beschloß daraufhin im Herbst 1996, ein Oder-Projekt unter der Federführung des WWF-Auen-Institutes vorzubereiten, um schädliche wasserbauliche Eingriffe zu verhindern. Mitten in die Vorbereitungen dieses Projektes traf das große Oder-Hochwasser vom Juli/August 1997, das buchstäblich alles umstürzte und auch die Rahmenbedingungen für unsere Arbeiten neu definierte.

Während und nach diesem Ereignis war das Team des WWF-Auen-Institutes intensiv bemüht, die Erkenntnisse und Erfahrungen mit naturverträglichen Hochwasserschutz-Konzepten, die wir in vielen Jahren am Oberrhein gewonnen hatten, an die Oder zu transferieren. Dabei waren wir mit der keineswegs überraschenden Tatsache konfrontiert, dass kaum jemand die Oder und ihre Auen wirklich kannte; Tschechen, Polen und Deutsche wussten bestenfalls über denjenigen Flussabschnitt und Aspekt Bescheid, den sie jeweils bearbeiteten. Eine internationale Flusskommission nach Art der am Rhein seit einem halben Jahrhundert bestehenden IKSR (Internationale Kommission zum Schutz des Rheins) gab es damals für die Oder noch nicht. Die Datenlage war lückenhaft, Datengrundlagen und Erhebungsmethoden erwiesen sich als höchst unterschiedlich, ein Problembewusstsein in Politik und Öffentlichkeit war erst in Ansätzen erkennbar. Angesichts dieser Ausgangssituation war es kaum verwunderlich, dass unsere Konzepte zu Hochwasserschutz und Auen-Renaturierung, die auf einer gesamthaften Betrachtung des Flusses und seiner Auen basieren, nur sehr begrenzt Verständnis fanden.

Als mich unser Projekt-Team nach einer ziemlich entmutigenden Analyse dieser Situation fragte, wie wir dieses Problem lösen könnten, machte ich recht spontan den Vorschlag, einen Atlas über die gesamte Oder zu erarbeiten. Dabei war ich nicht nur von dem druckfrisch vorliegenden "Rhein-Atlas" der IKSR (1998) und den vorausgegangenen Diskussionen zu diesem Werk inspiriert, ich erinnerte mich auch der enormen Wirkung, die der Atlas über "Schutzwürdige Bereiche im Rheintal" von Solmsdorf et al. (1975) seinerzeit in Fachverwaltungen und Öffentlichkeit, aber auch bei mir selbst erzielt hatte, obwohl oder gerade weil ich damals nur abschnittsbezogene Informationen dazu beisteuern konnte. Die Konzepte der genannten Atlanten sollten zusammengeführt, die Aussagen erweitert, vertieft und räumlich stärker konkretisiert werden. Damit stand das Grundgerüst für den Oder-Auen-Atlas. Selbstverständlich sollte er dreisprachig (polnisch, tschechisch und deutsch) erscheinen, um in allen drei Anliegerstaaten die Information möglichst vielen Interessenten zugänglich zu machen.

Zahlreiche Fachkollegen und Freunde aus der Tschechischen Republik, aus Polen und Deutschland stellten uns bereitwillig ihre Daten und Erkenntnisse zur Verfügung. Ihnen allen sei an dieser Stelle herzlich gedankt. Sie haben es ermöglicht, daß nunmehr erstmals für die Oder ein zusammenfassendes Werk vorliegt, in dem wesentliche geomorphologische, hydrologische, biologische und naturschutzfachliche Grundlagen für den gesamten Flusslauf dargestellt sind. Der Oder-Auen-Atlas dürfte somit zu einer unverzichtbaren Informationsquelle bei der Diskussion um eine sinnvolle, naturverträgliche Entwicklung der Oder-Landschaft werden.

Rastatt, Dezember 2000

Emil Dister