10. Weitergehende Analyse und Hinweise zur Verwendung der Ergebnisse

10.1 Naturschutz

Für den gesamten Untersuchungsraum liegt bisher noch kein geschlossenes Schutzgebietssystem vor, mit Ausnahme des Bereichs von Krosno Odrzañskie bis Szczecin und weiter bis zur Mündung ins Stettiner Haff sowie einem begrenzten Abschnitt an der tschechischen Oder. Dazwischen finden sich einzelne Schutzgebiete unterschiedlicher Qualität, die jedoch die Flussaue der Oder nur randlich erfassen. Bis zum Jahr 2000 steht die Flussaue nur im tschechischen Schutzgebiet CHKO Poodøi, in den polnischen PK Krzesiñski, PK Cedyñski, PK Dolina Dolnej Odry und im deutschen Nationalpark Unteres Odertal im Mittelpunkt der Schutzbestimmungen. Derzeit laufen aber Planungen für 2 weitere Landschaftsschutzparke mit dem selben Schwerpunkt. Dabei sind flächige, wertvolle Auenwälder nur im tschechischen Schutzgebiet zu finden. Darüber hinaus befinden sich aber zahlreiche, groß- und kleinflächige Schutzgebiete im Ausweisungsverfahren.

Bei der Auswertung der vorhandenen Bestandsaufnahmen hat sich gezeigt, daß die Kartierung von Pflanzen und Tieren in manchen Naturschutzgebieten als unzureichend einzustufen ist, zum Teil sind auch nicht vergleichbare Kartierungsmethoden angewendet worden. Die im Atlas dargestellten Ergebnisse der Geländekartierungen könnten hier als wertvolle Basisinformation für eine naturschutzfachliche Auswertung verwendet werden.

Besondere Bedeutung wird in diesem Zusammenhang die FFH-Richtlinie (Rat der Europäischen Gemeinschaft, 1992) erlangen. Die im Anhang I der FFH-Richtlinie aufgelisteten natürlichen Lebensräume von gemeinschaftlichem Interesse der EU sollen bei der Auswahl von Gebieten für das europäische Naturschutznetz NATURA 2000 berücksichtigt werden. Der Anhang beinhaltet zwei Lebensraumtypen, die einige der im Atlas verwendeten Biotoptypen betreffen.

Der Biotoptyp "Artenreiche Nass- und Feuchtwiesen" fällt unter den Lebensraumtyp 6440 "Brenndolden-Auenwiesen" (pflanzensoziologisch Cnidion dubii), der Biotoptyp "Weichholzauenwald" fällt unter den prioritären Lebensraumtyp 91E0 "Auenwälder" (pflanzensoziologisch Alno-Padion, Alnion incanae, Salicion albae) und der Biotoptyp "Hartholzauenwald" fällt unter den Lebensraumtyp 91F0 "Hartholzauenwälder" (pflanzensoziologisch Ulmenion minoris).

Zusätzlich steht eine Fischart, die hier als Bioindikator ausgewählt wurde, der Schlammpeitzger (Misgurnus fossilis), auf der Liste des Anhangs II der FFH-Richtlinie.

Ein Vergleich mit den nationalen Roten Listen (Anonym, 1992; Lusk et Hanel, 1998; G³owaciñski, 1992; Witkowski et al., 1999; Zarzycki et KaŸmierczakowa, 1993; Binot et al.,1998; Ludwig et Schnittler, 1996) ergibt für die im Atlas verwendeten 10 Pflanzenindikatorarten, 8 Fischindikatorarten und 14 Vogelindikatorarten in den drei Anliegerstaaten folgende Gefährdungssituation:

10.2 Hochwasserschutz

Die auf einer gesonderten Folie zusammenfassend dargestellten Informationen zu Überflutungsflächen, Hochwasserschutzdeichen und gesonderten Hochwasserrückhalteflächen (Polder) können als Baustein für einen zukünftig zu erarbeitenden Bewirtschaftungsplan des gesamten Flusseinzugsgebietes verwendet werden. Dieser Gesamtplan ist bei den tschechischen Einzugsgebietsbehörden heute schon Praxis, in Deutschland wird er gemäß der Wasserrahmenrichtlinien der EU (WRRL) in wenigen Jahren zu erarbeiten sein. Für Polen gilt dies spätestens nach Beitritt in die EU.

Da Hochwasserschutzplanung auch häufig einen schwierigen Prozess der Konsensfindung zwischen unterschiedlichen Interessenslagen und Betroffenen darstellt, ist die Visualisierung der potentiellen oder realen (wie in 1997) Auswirkungen von Hochwasser für alle Betroffenen ein Schritt zum konstruktiven Dialog. Die erarbeitete, sicher nicht in allen Abschnitten schon ausreichend verfeinerte Abgrenzung des natürlichen Überflutungsraumes ist unverzichtbare Grundlage zur Erarbeitung von Hochwasserrisikokarten.

Nicht erst im Rückblick auf das Hochwasser im Sommer 1997 wird der praktisch seit der Mitte des letzten Jahrhunderts bestehende Hochwasserschutz an der Oder als noch nicht ausreichend eingeschätzt. Die Entwicklung des Flussbaues an anderen europäischen Flüssen zeigt, dass die Lösung nicht allein in einer Deichertüchtigung oder Deicherhöhung liegen kann. Man wird deshalb auf die Suche nach zusätzlichen Retentionsflächen, d.h. einer Erweiterung der rezenten Aue, nicht verzichten können. Die vorhandenen Konzepte der RZGW in Wroclaw (Generalna strategia, 1998) zeigen dies sehr deutlich. Bei der durchzuführenden Auswahl geeigneter Flächen können die ökologisch-naturschutzfachlichen Daten aus der Biotopkartierung synergetische Wirkung entfalten. Alle noch vorhandenen auentypischen Biotope landseits der Deiche sind grundsätzlich für eine naturnahe Überflutung geeignet, ja sie benötigen diese in der Regel sogar für ihre nachhaltige Entwicklung und Sicherung.

Gerade das Hochwasser im Sommer 1997 hat nach Erkenntnissen des Autorenteams und der Herausgeber gezeigt, welche positiven Auswirkungen diese extreme Überflutung sogar auf jahrzehntelang nicht von Hochwasser erfassten Flächen entfalten kann. Im Herbst 1999 konnte auf allen Hartholzauenstandorten eine massive Verjüngung festgestellt werden, Folge einer offenkundig positiv wirkenden Wasser- und Nährstoffzufuhr in 1997, die dann 1998 diese Samenausbildung ermöglichte. Andererseits waren nur relativ geringe, sehr selektiv aufgetretene Schäden durch die Überflutung feststellbar (Greinert et al., 1998). In diesem Zusammenhang ist der Auwaldkomplex südlich von Brzeg Dolny hervorzuheben, wo Schäden in einem großflächigen Bruchwald (06) infolge zu hoher Überflutung eingetreten sind. Dieser Wald liegt in einer Randsenke des Pradolina Wroc³awska und hat sich vermutlich nicht ohne forstliche Eingriffe in seiner heutigen Ausprägung erst nach dem Bau eines geschlossenen Deichsystems entwickelt. Fot. 16.
Oder - Überflutung in CHKO Poodrzi, Juni 1997

10.3 Landnutzung, insbesondere Forst- und Landwirtschaft

Eine auf die Flussaue der Oder begrenzte Analyse der Landnutzung auf Basis der CORINE-LandCover Daten (EEA, 1999) brach-te folgende Ergebnisse:

Von ca. 3640 km2 sind

der Rest verteilt sich auf

Die letzten beiden Flächenangaben sind aufgrund ihrer häufig linienhaften Struktur und bei einer Rastergröße der CORINE-Daten von 250 m als nicht besonders zuverlässige Größen zu betrachten.

Im einzelnen ist darauf hinzuweisen, dass von den gesamten Waldflächen im Untersuchungsraum fast 50% als naturschutzfachlich wertvoll gemäß den verwendeten Biotoptypen-Kategorien einzustufen sind. Wenn dann noch berücksichtigt wird, daß diese Biotoptypen nur Laubwälder betreffen, so sind sogar 70% aller sogenannten Mischwälder (Definition nach CORINE-LandCover) von den ausgewählten Biotoptypen erfaßt, fast Zweidrittel davon in der rezenten Aue (s. Tabelle 1). Von den Waldflächen, die den ausgewählten Biotoptypen zugewiesen wurden, ist nur ein sehr geringer Teil von einer Nutzung verschont.

Umgekehrt wird auch deutlich, wie schonend bisher in den auentypischen, meist standortgerechten Wäldern gewirtschaftet wurde. Die besondere Wertigkeit wird auch durch das verbreitete Vorkommen der Bioindikatoren für Vögel - Mittelspecht, Schwarzmilan und Rotmilan - unterlegt. Die Auenwälder an der Oder könnten daher unter verschiedenen Aspekten für Modellstudien herangezogen werden. Fot. 17: P. Obrdlik
Oder - Przerwanie wa³u w okolicy Brzegu Dolnego, wrzesieñ 1997

Eine Analyse des Anteils der Grünlandbiotoptypen an den CORINE-Grünlandflächen ist aufgrund der Differenzierungsmerkmale nicht eindeutig, gemäß einer groben Abschätzung dürfte dieser aber bei mindestens 50% liegen. Voraussetzung für die Entwicklung der hier verwendeten Grünlandbiotoptypen ist eine entsprechend extensive Nutzung.

Welche große Bedeutung der zukünftigen forst- und landwirtschaftlichen Nutzung bei der Erhaltung oder gar Entwicklung dieser Biotope zukommt, braucht nicht mehr näher erläutert zu werden.

Als Sonderaspekt der Landnutzung in Flussauen kann der Sand- und Kiesabbau nicht vernachlässigt werden, der in Flussauen stets als Baggersee mit offenliegendem Grundwasserkörper in Erscheinung tritt. Die Gesamtfläche liegt bei knapp 1500 ha, was im Vergleich zur gesamten Auenfläche, wie auch im Vergleich zu Elbe und Rhein, eine fast vernachlässigbar kleine Fläche darstellt.

Im Gesamtüberblick beeindruckt die Verteilung der Sand- und Kiesabbauflächen. Eindeutige Schwerpunkte liegen zum einen bei großräumigen Siedlungsbereichen. Zu nennen sind die Großstadtbereiche von Ostrava und von Wroc³aw, und zwar jeweils unterstrom der bebauten Gebiete, dann in etwas weniger konzentrierter Weise bei den größeren Städten KoŸle und Opole. Zum anderen sind im ländlichen Raum an der unteren Oder der große Baggersee bei Cedynia am Fuße des östlichen Odertalhangs zu erwähnen, ergänzt durch einen kleineren Baggersee auf der gegenüberliegenden deutschen Seite, und nicht zuletzt, weil mit Abstand die größte Baggerseeagglomeration im Odertal, die meist jüngeren Auskiesungsflächen im Bereich des zukünftigen Polders Buków mit zusammen gut 600 ha. Insbesondere die letzteren Angaben beruhen auf Kartierungsergebnissen, da in den aktuell verfügbaren Karten weniger als 50% der realen Baggerseeflächen vermerkt sind. Für die vorhandenen Baggerseen gilt, daß sie meist nicht auf Standorten von wertvollen Biotopen entstanden sind, sondern auf ehemals landwirtschaftlich genutzten Flächen. Von einer großen Beeinträchtigung des Naturhaushalts oder größeren potenziellen Gefahren für das Grundwasser kann im jetzigen Zustand kaum gesprochen werden, da sie selten von (potentiell verschmutztem) Flusswasser überflutet werden. Eine Sonderstellung nimmt der Bereich des Polders Bukow ein. Nahezu 50% der zu-künftigen Polderfläche sind heute bereits Baggersee.

Im Zusammenhang mit den künstlichen Wasserflächen sollten die großflächigen Teichanlagen, die von Zisterziensern angelegt wurden, nicht unerwähnt bleiben. Sie sind auf den Raum Raciborz und südlich von Ostrava konzentriert. Die zum Teil mehr als 300 ha großen, meist sehr flachen Fischteiche werden nicht intensiv bewirtschaftet und weisen bereits einen gewissen Naturschutzwert auf. Gerade Wasservögel sind sehr zahlreich vertreten. Wenn diese Teiche wie im tschechischen Abschnitt zunehmend aus der Nutzung genommen werden und einem naturnäheren, d.h. auentypischen Wasserstandsregime mit zeitweiser Austrocknung ausgesetzt werden, können diese einen sehr hohen Stellenwert für den Biotop- und Artenschutz erlangen. Fot. 18: G. Bobrowicz
Oder - Hochwasser im Auenwald bei Tarchalice, Juni 1997

10.4 Gewässerausbau

Im direkten Zusammenhang mit den Aspekten des Hochwasserschutzes und der Landnutzung stehen alle Aspekte des Gewässerausbaus. Zum einen betrifft es den klassischen landwirtschaftlichen Wasserbau. Unter dem Stichwort Melioration war dies eines der Mittel für die Optimierung der Flächenbewirtschaftung durch komplexe Entwässerungs- und Abflußverbesserungsmaßnahmen. Beide Zielsetzungen sind in der Regel nicht auf die reinen Wirtschaftsflächen begrenzbar. Mit der hier erarbeiteten Darstellung der heute noch naturschutzfachlich wertvollen Flächen können zukünftig bei Meliorationsvorhaben die ökosystem- und raumbezogenen Auswirkungen frühzeitiger integriert werden.

Unter Gewässerausbau müssen auch die Maßnahmen in dem maßgebenden Oderflußbett eingeordnet werden. Die schon vorliegenden Ausbaukonzepte im Programm ODER 2006 (1999) beinhalten neben dem Bau von Staustufen auch flußregulierende Maßnahmen und den Ausbau der Wasserkraftnutzung. Alle Maßnahmen haben erhebliches, in der Regel negatives Wirkungspotential auf Biotope im Flußbett als auch in der gesamten Flussaue.

Ein Vergleich der Waldbiotoptypen in der rezenten Aue unterstrom der Staustufe in Brzeg Dolny bis nach Nowa Sol gibt Hinweise, dass bereits gewisse Veränderungen im Wasserhaushalt in unmittelbarer Nähe zum Flußbett stattgefunden haben. Bedingt durch das seit über 40 Jahren wirkende Geschiebedefizit unterstrom dieser letzten von einer ganzen Kette von Staustufen, sind bereits erhebliche Sohlenerosionen mit einem entsprechenden Absinken der Mittel- und Niedrigwasserspiegel von bis zu 2 m eingetreten. Die Folge waren ein Absinken des Grundwasserstandes und seltener eintretende Überflutungen der flussnahen Auenwälder. Die nächsten Folgen waren bis heute wirksame Veränderungen in der Vegetation, die auf die gesamte Biozönose wirken. Dieser Austrocknungsprozess wird in einer verstärkten Ausbildung des Biotopkomplexes "mesophile Wälder" (04) und des Biotoptyps "Übergangsformen" (03) sichtbar, während in der über 50 km weiter unterstrom liegenden Flussaue auf vergleichbaren Standorten, aber mit noch nicht wirksamer Sohlenerosion, noch typische Auenwaldbiotoptypen vorherrschen. Fot. G. Rast
Oder - Buhnen stromabwärts der Staustufe Brzeg Dolny

Etwas Ähnliches lässt sich in den südlich von Wroclaw vorkommenden Auenwäldern ablesen, wo allein die fehlende Überflutung in den landseits von Hochwasserdeichen liegenden Wäldern (z.B. im Polder O³awa-Lipki) trockenere Ausbildungen vorherrschen, bei sonst sehr ähnlichen Standortsverhältnissen.

Ein weiterer, wesentlicher Aspekt des Gewässerausbaus betrifft die morphologischen Auswirkungen auf die direkt mit dem Flussbett verbundenen Biotoptypen. Die Oder wird über die größte Strecke als Schifffahrtsweg genutzt. Schon die gebräuchliche Bezeichnung Wasserstraße macht deutlich, dass eher statische Rahmenbedingungen für die Schifffahtsrinne angestrebt werden. Die natürliche morphologische Dynamik eines Flussbetts steht diametral dagegen. Da die Oder durch ein seit Ende des 19. Jahrhunderts außergewöhnlich stabiles Regelungssystem mit Buhnen und Leitwerken "eingesperrt" ist, können sich offene, vegetationsfreie Sand- und Kiesbänke oder auch Inseln nicht mehr ausbilden. Der Verlust dieser Standorte wird im Fehlen von durchgängig den Fluss begleitenden Weiden-Pappelwäldern (01) sichtbar, die Ausbildungen der Hartholzauenwälder (02) sind meist direkt am Rand des Flussbetts zu finden. Nur noch zwei größere, dynamische Sandpionierfluren (11) sind erhalten. In vielen Buhnenfeldern sind noch kleinere dynamische Standorte vorhanden, die von zwei Vogelindikatorarten - Flussuferläufer und Flussregenpfeifer - genutzt werden. In verlandeten Buhnenfeldern bilden lokale Abbrüche der hohen Sedimentablagerungen geeignete Nesthabitate für Uferschwalben. Auch aus der übergeordneten Sicht eines Biokorridors erfüllen diese flussbegleitenden Pionierstandorte eine wichtige Funktion in der Vernetzung von Faunen- und Florenelementen.

Die im Rahmen des Programms Oder 2006 (1999) geplanten flussregulierenden Maßnahmen entsprechen einem weiteren Ausbau der Buhnenbauwerke, neben einigen Begradigungen (sogenannten Kurvenabflachungen). Wie die Erfahrungen an der Mittelelbe zeigen, wird dies zu einer weiteren Abnahme der dynamischen Standorte führen und damit den noch vorhandenen Bestand von europaweit seltenen und bedrohten Arten gefährden.

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